Bei der militärischen Hilfe für die Ukraine spielen die Niederlande ganz vorne mit. Sogar die Lieferung von Kampfjets wird erwogen. Das hat nicht zuletzt mit der kollektiven Erinnerung an die Opfer des abgeschossenen Fluges MH17 zu tun.
«Bis hier und nicht weiter» lautet die Devise des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz. Seinen Widerstand gegen die Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine hat er aufgegeben, bei Kampfjets aber zieht er eine rote Linie. «Keine Tabus», tönt es dagegen aus den benachbarten Niederlanden.
Gefragt, ob die Regierung auch F-16-Flugzeuge liefern könnte, sagte der niederländische Aussenminister Wopke Hoekstra vor einigen Tagen während einer Parlamentsdebatte: «Wenn es eine Anfrage aus der Ukraine gibt, werden wir das auf jeden Fall prüfen.» Die Niederlande, so das Signal, wollen dabei sein, falls bei den Waffenlieferungen die nächste Stufe gezündet wird. Zwar hat bisher kein Nato-Staat der Ukraine eine feste Zusage für Kampfflugzeuge gemacht. Doch die Debatte ist längst im Gange.
Den Haag will seine Flotte ohnehin erneuern
Es brauche jetzt eine starke Kampfjetkoalition, schrieb der ukrainische Vizeaussenminister und ehemalige Botschafter in Deutschland, Andri Melnik, auf Twitter. Ob amerikanische F-16 oder F-35, Eurofighter, Tornados, französische Rafales oder schwedische Gripen – die Verbündeten sollten schicken, was sie könnten, findet Melnik.
Nach Angaben des niederländischen Verteidigungsministeriums besitzt das Land rund 40 F-16-Kampfjets, die in den kommenden Jahren durch fortschrittlichere F-35 ersetzt werden sollen. Dass ein Teil der bald ausgemusterten Flotte schon jetzt der Ukraine überlassen werden könnte, erscheint also machbar.
Auch hat sich der amerikanische Hersteller Lockheed Martin bereit erklärt, die Produktion von F-16 hochzufahren, um mögliche Ausfälle der Verbündeten zu kompensieren, wie die «Financial Times» schreibt. Neben den Niederlanden besitzen sieben weitere europäische Nato-Staaten, unter ihnen Polen, Norwegen und Rumänien, F-16-Jets.
Ministerpräsident Mark Rutte versuchte am Montag allerdings die Erwartungen ein wenig zu dämpfen. Nein, es gebe derzeit keine Anfragen für F-16, sagte er bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Man müsse sich zudem klarmachen, dass die Kampfjets einen «wirklich grossen nächsten Schritt» darstellten.
Macron warnte vor einer Eskalationsgefahr und sagte, dass die Flugzeuge nur zur Verteidigung ukrainischen Territoriums eingesetzt werden dürften. Paris hat allerdings schon angeboten, bei der Ausbildung ukrainischer Piloten zu helfen. Eine Lieferung von französischen Rafale-Jets sei grundsätzlich auch nicht ausgeschlossen.
In einem Interview mit dem amerikanischen Sender CNN hielt Rutte fest, dass sein Land schon jetzt zur «Oberliga» jener Staaten gehöre, die Kiew unterstützen. Nachdem die Niederlande der Ukraine im vergangenen Jahr militärische Ausrüstung im Umfang von 1 Milliarde Euro geliefert haben, darunter mehrere Panzerhaubitzen 2000, soll sich die Hilfe in diesem Jahr auf 2,5 Milliarden Euro erhöhen.
Bereits zugesagt sind zwei Startanlagen für das Flugabwehrsystem Patriot mit dazugehörigen Raketen sowie 100 gepanzerte Fahrzeuge mit Flugabwehrkanonen. Darüber hinaus will nun auch Den Haag der Ukraine 18 moderne Leopard-2-Kampfpanzer überlassen – eine Entscheidung, die erst fallen konnte, nachdem sich Deutschland in der Sache bewegt hatte.
Warum setzen sich die Niederländer so entschieden für die Ukraine ein? Der Sicherheitsexperte Tim Sweijs vom Centre for Strategic Studies in Den Haag sieht mindestens drei Gründe: Zum einen gehe es dem Land seit dem Zweiten Weltkrieg darum, als verlässlicher transatlantischer Verbündeter wahrgenommen zu werden. In der Aussenpolitik achte man zum anderen darauf, die internationale Rechtsordnung zu stärken. Dieses Ziel, so Sweijs, sei sogar in der Verfassung verankert.
Russland als direkte Bedrohung wahrgenommen
Als wichtigster Grund aber dürfte wohl der Abschuss des Malaysia- Airlines-Fluges MH17 über der Ostukraine im Jahre 2014 gelten. Er hat dazu geführt, dass Russland von der breiten Bevölkerung als direkte Bedrohung angesehen wird. Bei der durch eine russische Rakete ausgelösten Tragödie kamen alle 298 Menschen an Bord ums Leben, wobei 198 der Opfer Niederländer waren.
Ein Gericht in Amsterdam verurteilte im November zwei ehemalige russische Geheimdienstoffiziere und einen ukrainischen Komplizen in Abwesenheit wegen Massenmordes zu lebenslanger Haft. Trotz erdrückenden Beweisen leugnet der Kreml weiter jegliche Verantwortung. «Der Abschuss von MH17 hat deutlich gemacht, dass der Konflikt in der Ukraine direkte Auswirkungen auf die Sicherheit der Niederlande hat», sagt Sweijs. Eine Mehrheit der Bevölkerung spreche sich deswegen auch für westliche Waffenlieferungen an Kiew aus.
Grösser als in anderen westeuropäischen Gesellschaften ist in den Niederlanden schliesslich auch die Bereitschaft, weiterhin ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen oder die Wirtschaftssanktionen gegen Russland mitzutragen, wie Umfragen zeigen.
Dass die Niederlande bei den Kampfjets alleine vorpreschen, ist undenkbar. Im Zusammenschluss mit anderen Verbündeten aber dürfte Den Haag nicht zögern, das letzte Tabu in der Waffenfrage zu brechen.
Neue Zürcher Zeitung, Daniel Steinvorth, 01.02.2023
Brüssel-Korrespondenten Daniel Steinvorth auf Twitter.